2003   2010   2011
   
Home
Programm
  ·Programmformate
  ·Eintritt
  ·Orte
Preisfrage
Forschungspreis
Hamann
Förderpartner
Kontakt/Impressum

Rede, dass ich Dich sehe! – – Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist; denn ein Tag sagts dem andern, und eine Nacht tuts kund der andern. Ihre Losung läuft über jedes Klima bis an der Welt Ende und in jeder Mundart hört man ihre Stimme. – – Die Schuld mag aber liegen, woran sie will, (außer oder in uns): wir haben an der Natur nichts als Turbatverse [durcheinandergeworfene Verse] und disiecti membra poetae [des zerstückten Dichters (Gottes) Glieder] zu unserm Gebrauch übrig. Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen des Philosophen; sie nachzuahmen – oder noch kühner! – sie in Geschick zu bringen des Poeten bescheiden Teil.
JGH Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Das ist die Natur der Leidenschaft, dass sie nicht am Dinge selbst, sondern nur an seinem Bilde hangen kann – und ist es nicht die Natur der Vernunft, am Begriff zu hangen – Trifft also nicht beide der Fluch des dürren Holzes? Werdet wie die Kinder, um glücklich zu sein, heißt schwerlich so viel als: habt Vernunft, deutliche Begriffe.
JGH an Jacobi am 2.11.1783

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heißt, Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen [...]. Diese Art der Übersetzung (verstehe Reden) kommt mehr als irgend eine andere mit der verkehrten Seite von Tapeten überein.

JGH Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose

FLIEGENDE BLÄTTER Lesungen

Freitag, 05. November 2010, 20:00 Uhr
Erbdrostenhof, Salzstraße 38, 48143 Münster, Eintritt 15 Euro


Kreuzzüge oder
Sieben Tafeln für Johann Georg Hamann

Christian Lehnert, Wittenberg

Was ist in den Sprachen "die" Sprache? Das Zentrum der Hamannschen Sprachgläubigkeit, das christliche Wort vom Kreuz und von der Schöpfung als Gotteswort, umkreisen die sieben Prosaminiaturen und Sonette Christian Lehnerts. Mit Zitatsplittern Hamanns und nach der mittelalterlichen Andachtsdichtung „Membra Jesu nostri“ meditiert Christian Lehnert in seinen "Kreuzzügen" die Idee der Natursprache und "ein Denken in Begriffen und in Staub / und Mimikry" entlang der "Glieder unseres Jesus", von den Füßen bis zum Gesicht. Wer spricht wen an, wer ahmt was nach? Gibt es einen Schöpfungsrede, eine Antwort auf sie?

"Die Motten sagen es in der Dämmerung den Vögeln und die Vögel den Wolken: Rede, daß ich Dich sehe! -- Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist. Luftgetier – wie Flügel sich öffnen und wieder schließen, die Nachtaugen klappen, so verwirbeln "an" und "durch" im Aufwind. Wer angesprochen ist, spricht. Jede Sache ist ein unsichtbarer Embryo, dessen Begriff und Innhalt durch den Vortrag erst, gleichsam zur Welt kommen, und offenbar werden muß.
Alles redet, schwirrt und brummt – Chyffern, verborgene Zeichen. Wo liegt aber das Räzel des Buchs? In seiner Sprache oder in seinem Inhalt? Im Plan des Urhebers oder im Geist des Auslegers?"



Der König von Saudi-Arabien, der Präsident von Syrien, der Bundespräsident und E und E
Peter Waterhouse, Wien

Ist Vernehmen Vernunft? Aus der fernen Ferne eines Septembertages 2010 versucht die die Erzählung von Peter Waterhouse eine Antwort auf Johann Georg Hamanns zwei ausgewählte Briefe zu geben, doch eine Antwort worauf? Auf die Frage wer das ist, der da vorne die Landstraße entlang geht, der in den Wagen zusteigt und mitfährt, der aus seinem Land geflüchtet ist und im neuen Land um Asyl gebeten hat, was wohl in seiner Unerkennbarkeit und seiner Widersprüchlichkeit und seiner Auskunftslosigkeit – die ihm alle drei vor Gericht und bei den Befragungen nicht gut zu Gesichte stehen – vernehmbar wird und den Erzähler der Erzählung aufmerksamer macht auf dieses Vernehmen und auf die Nähe von Vernehmen und Vernunft.

"Bloß sieben Wochen später, in der Wiener Semmelweis Klinik, sah ich zu, wie das neugeborene Mädchen, wenige Minuten nach der Geburt oder noch weniger als wenige Minuten, beinahe versunken da saß auf dem Bett im Kreißsaal 1, doch das kleine Mädchen konnte noch nicht sitzen, doch lag es weder bäuchlings noch rücklings auf dem Bett, und wie es eine zwischen Daumen und Finger gerutschte Falte des Leintuchs auf einmal nahm, festhielt, gewahrte und ohne hinabzublicken darauf Acht gab und Acht gab und Acht gab und vielleicht nicht die Beschaffenheit des Leinens prüfte, sondern sich zur Welt brachte, die Gefühle zur Welt brachte, die Gefühle der Haut zum ersten Mal in der frischen Weltluft, welche zum spaltbreit geöffneten Fenster hereinwehte aus dem Semmelweis Park, herstellte. Ganz leicht bewegte sie Daumen und Finger, bewegte und bewegte Daumen und Finger vor und zurück. Achtete sie versunken hockend, sehr gebeugt krumm hockend, auf das Leinen oder auf die zwei Finger? Ich wusste nicht, als ich sah, was das Mädchen tat, ob es wichtig war, ihr dabei zuzusehen, also sah ich ihr zu. Indem ich nicht wusste, schien ich richtig aufzufassen. Hatte ich Vernunft, indem ich nicht wusste? War der Intellekt eine nichtwissende Fähigkeit?"



Der Originalbeitrag Sibylle Lewitscharoffs
wird zu den Magus Tagen vorliegen.
Sibylle Lewitscharoff, Berlin

"Engel sind Wahrhalter, denke ich mit eigensinniger Kraft gegen den Daihatsu an, von den in Luftzügen schwebenden, driftenden, flatternden Wörtern müssen sie noch die winzigsten darein verfitzten Botschaftskörner vernehmen. Wer so intensiv hört, bis ins Innerste der Stille hinein, versteht vielleicht im eigentlichen Sinne nicht. Nehmen wir einmal an, Gott sage SPEZIFISCH. Da darf es in einem Engelhirn nicht allzu lang rappeln, bis es alle möglichen Varianten von Spezi und Fisch samt den in der Bibel auftauchenden Fischvorkömmnissen überprüft hat und zu dem Schluss gekommen ist, dass Fische als Heringe, Sardine, Thunfisch quasi nur im Nebenher, als fröhlicher Begleitschwarm durch die das Wörtlein tragende Luftmenge schwimmen.
Ein herzlich dummes Beispiel, ich weiß […]
Hehe, Schwester, bitte nicht so trübe. Ich denke an Engel, und du legst den Kopf auf die Seite und schläfst mir weg, nur weil es Abend und die Autobahn leer wird.
Sendboten, Schwester! Abendverkehr, Geflatter am Himmel. Signifikanten- schwemme!
Sendboten sind dazu da, das göttliche Kauderwelsch auseinanderzunehmen. Sammeln, Sortieren, Begutachten, Gruppieren, Verbinden. Hören eben, was sonst. Die darin wie in Bernstein eingesiegelten Aufträge sind weiterzuleiten an alles, was Ohren hat. Selbst wenn sich im Hohen Willen ein Schwanken bemerkbar machen, der Hohe Wille gleichsam an sich selbst verzagen sollte. Ein Fehlhören darf nicht unterkommen. Die Botschaften müssen korrekt empfangen und korrekt überbracht werden."
Aus: Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff. Roman, Suhrkamp 2009


NÄSCHEREY Musik
Annika Treutler, Klavier
Johann Sebastian Bach: Goldberg-Variationen (Auszug)
Toru Takemitsu: Raintree Sketch II


Bildnachweis:
Peter Waterhouse: © privat
Sibylle Lewitscharoff: © Stefan Ulrich Meyer/Suhrkamp Verlag

 

  zurück