magus tage  MÜNSTER


Verstehen: Einführende Bemerkungen

Wenn zwei dieselbe Sprache sprechen, so sprechen sie noch lange nicht dieselbe. Und dass ich glaube, man versteht mich, bedeutet nicht, dass mein Gegenüber mich tatsächlich versteht. Verstehe ich mich denn selbst? Wie oft verstehen wir uns selbst oder einander nicht – und wie glücklich macht es uns, wenn wir mit uns selbst eins sind, wenn wir glauben, einander wirklich und tief zu verstehen. Häufig konstatiere ich, dass ich verstehe, oder stelle fest, dass ich verstanden werde. Oft jedoch muss ich mich durch Rückfragen versichern, ob mein Gegenüber mich überhaupt und wie es mich versteht. Oder wir beide reflektieren unser Verstehen als Problem, weil uns klar wird, dass wir einander nicht, schlecht oder missverstehen. Nicht selten bemerken wir dies zu spät oder gar nicht, bisweilen mit verheerenden Folgen. Doch was, wenn mein Gesprächspartner mich nicht verstehen kann, aus intellektuellen oder psychischen, aus kulturellen oder gesundheitlichen Gründen oder weil ihm einfach ein paar Informationen über mich fehlen? Was, wenn ich mein Gegenüber nicht verstehen will, weil mich kulturelle Vorurteile leiten, ich die Person nicht ausstehen kann oder sie dominieren will, weil mir der gute Wille zum Verstehen einfach fehlt?

„Verstehen“ im Alltagsgebrauch

„Verstehen“ – darunter ist vieles zu verstehen, selbst wenn man das Thema, wie die Magus Tage 2013, auf das Verstehen von Menschen und ihren Äußerungen begrenzt. „Verstehen“ kann alltagssprachlich das semantische Verstehen, die Kenntnis von Wortbedeutungen und das Wissen um ihren Gebrauch, bezeichnen sowie das Begreifen des Sinns einer Rede, eines Textes oder einer anderen Handlung. Immer geht es darum, einer (menschlichen) Äußerung einen (inneren) Sinn zu geben bzw. in ihr einen Sinn zu erkennen. Dabei setzt unser Alltagsbewusstsein voraus, dass dieser Sinn im Produzenten, unabhängig von den Verstehenden und ihnen vorgängig existiert und von den Verstehenden erkannt werden muss, auch wenn es sein kann, dass seine Rekonstruktion niemals vollkommen gelingt. Denn sie ist subjektiv, auch durch die Perspektive des Verstehenden gebunden: Verstehen findet in der 1. Person Singular statt („ich verstehe“) oder, als intersubjektives, im Wir der 1. Person Plural.

Doch auch emphatisch sprechen wir davon, einen anderen Menschen zu „verstehen“, mitunter sogar so gut wie uns selbst. Hier ist mehr als die Ratio involviert, Einfühlungsvermögen und Empathie, das Gefühl, Gemeinsamkeiten zu haben, scheinen eine Rolle zu spielen. Manchmal allerdings stehen wir fassungslos da und verstehen das Handeln eines anderen oder ihn selbst, aber auch unser eigenes Tun ganz und gar nicht. Ein andermal wiederum sprechen wir vom „(Ein-)Verständnis“ der Freunde oder Liebender.

„Verstehen“ und die „Kunst des Verstehens“

„Verstehen“ ist abseits des alltäglichen Wortgebrauchs ein Terminus der Hermeneutik, der theologischen und philosophischen Reflexion des Verstehens, die zur Alltagssprache auf Abstand geht und das Verstehen zum Thema macht, um die „Kunst des Verstehens“1 und des Auslegens zu verstehen und ihre Regeln und Methoden zu beschreiben.

„Nichtverstehen“ im Alltag

„Nichtverstehen“ beginnt damit, dass man die Bedeutung von Wörtern der Muttersprache nicht kennt oder eine Sprache überhaupt nicht kann, beim simplen Missverständnis einer Wort- oder Satzbedeutung im Alltag, das sofort auffällt und sich im Gespräch noch klären lässt. „Nichtverstehen“ bezeichnet das in einer Situation unbemerkte oder unmittelbar irritierende Aneinander-Vorbeireden sowie existenzielles Nichtverstehen, die Unfähigkeit, Handlungen eines anderen, inklusive seiner Worte, seine Wertungen oder Entscheidungen nachzuvollziehen, bis hin zu einer Fremdheit, die als unaufhebbar und bedrohlich empfunden wird. In diesem Sinn kann ich auch mir selber fremd sein, mich selbst nicht (mehr) verstehen. Das bedeutet, Freiheit und Selbstbestimmung zu verlieren und hat mitunter Krankheit oder Suizid als Folge. Soziale Entfremdung, Fremdheit, kann dagegen Aggression gegen die sogenannten „Andern“ und offene Konflikte, gesellschaftliche Abwertung und Diskriminierung, Pathologisierung und Sanktionen, gar Mord und Krieg nach sich ziehen.

Nicht „verstehen“, sondern „erklären“

Wissenschaftshistorisch ist „nicht verstehen wollen“ kein Manko, sondern bedeutet „erklären“. Erklären (Dilthey) ist in der Vergangenheit als Erkenntnismethode den Naturwissenschaften zugewiesen worden, die sog. „Geisteswissenschaften“ dagegen „verstehen“. Nicht-Verstehen als solches Erklären bezeichnet die Methode der rationalistisch-szientifischen, quantifizierend-objektivierenden, eben nicht subjektiv-verstehenden Annäherung an die Welt und den Menschen. Beim Erklären – und den zugehörigen nichthermeneutischen erkenntnistheoretischen Konzepten – geht es nicht um die (auch einfühlende) Re-konstruktion von Sinn aus der Perspektive der 1. Person Singular, sondern um die Entdeckung von objektiven Sachverhalten bzw. Phänomenen aus der Perspektive der 3. Person. Dies geschieht entweder im erkenntnistheoretischen Rahmen eines naiven oder pragmatischen Realismus, der Welt und Mensch nach naturgesetzlicher Kausalität „objektiv“ beschreibt, oder es geschieht unterm Vorzeichen eines gemäßigten Konstruktivismus, der weiß, dass das autonome Subjekt der Natur seine eigenen, dass Vernunft und Verstand, die als gleich in allen gedacht sind, der Welt ihre Gesetze „vorschreiben“ (Kant).

Verstehen scheidet die Geister – am Scheideweg in Königsberg

Am Verstehen scheiden sich die Geister – und es ist, als sei Königsberg symbolisch für‘s Verstehen: der Ort, wo sich das Verstehen des Verstehens und an dem die Moderne sich scheidet (vgl. Wladimir Gilmanovs „Gruß aus Kenig“). Ihre beiden Wege beginnen, plakativ formuliert, mit ihren ‘Gründervätern‘, den beiden Großen der Stadt: Johann Georg Hamann (1730-1788) und Immanuel Kant (1724-1804). Die Zwei waren Freunde und philosophisch zugleich unversöhnliche Gegner. Kant, der Transzendentalphilosoph, begründete mit seiner „Kritik der reinen Vernunft“ in der Nachfolge Descartes‘ das extramundane Erkenntnis-Subjekt als autonom und schied das Ich in ein körperliches und geistiges, logisches und moralisches Subjekt. Die „reine Vernunft“ ist von den Dingen-an-sich fundamental getrennt, die Außenwelt hat ein Subjekt nur als Fülle der Erscheinungen oder Phänomene, die durch seine eigenen Verstandesbegriffe und deren Kombination generiert sind. Spricht man hier von „verstehen“, so meint man die Konstruktion von Phänomenen und erhebt zudem die Perspektive der 3. Person zum Ideal des Verstehens. Das Ich, eigentlich ein Es, ist von der Außenwelt zwar sinnlich affiziert, aber es ist geistig niemals wirklich außer sich bei den Andren, bei der Welt und eins mit seinem Leib.

Dagegen erneuert der „Magus in Norden“ mit seiner „Philologie des Kreuzes“ den christlich-antiken Logos-Gedanken und eine Hermeneutik, die noch in ihren späteren säkularen Varianten auf der Entdeckung eines vom erkennenden Ich unabhängigen und dem Verstehen vorgängigen Sinns beharrt. Und er insistiert auf einem Konzept des Ich, das dieses nicht als autonomes Subjekt, sondern als eine ursprüngliche Einheit von Körper und Geist und ursprüngliches In-der-Welt-Sein versteht. (Link)

Hamanns christliche Hermeneutik

Gott, das christliche Logos-Konzept und die persönliche Gotteserfahrung, der christliche Glaube ist (was ich hier nur kurz anreißen kann) Ausgangspunkt des Lebens, Denkens und Schreibens von Johann Georg Hamann. Der Logos-Gott ist Ursprung und Sinn der Schöpfung und Mitte all seines Nachdenkens über das Sein und den eigenen Lebensweg, über Sprache und Gesellschaft, Erkenntnis und Verstehen. Im Logos sind menschliche Sprache und Vernunft eins und sie gründen im Schöpfer, im göttlichen Wort, so wie auch die Welt, die in ihrem Innersten Wort, Sprache-und-Vernunft, ist. Gott ist persönlich und Schöpfergott, er ist selbst das Wort, das uranfänglich erschaffen hat und die Schöpfung noch heute erhält. Der Mensch hat qua Sprache am göttlichen Logos teil, sein Zugang dazu ist nach dem Sündenfall aber korrumpiert. Das Selbst konzipiert Hamann ganzheitlich als ursprüngliches In-der-Welt-und-im-Wort-Sein und die Schöpfung als einen universalen Logos- oder Rede-Zusammenhang – nicht in ‚Prosa‘, sondern als Poesie. Für Hamann ist Gott der „Poet am Anfang der Tage“, den es durch seine Schöpfung, die „sinnliche Offenbarung seiner Herrlichkeit“2, zu verstehen und dessen Wort es in einzelnen Sprechhandlungen idealiter „nachzuahmen“ gilt. Dass sich der Logos dem bruchstückhaften Verstehen des historischen Menschen (im Unterschied zu dem Adam der Bibel) strukturell und erst recht in der „atheistischen“ Aufklärung entzieht, ist ein Topos Hamannschen Denkens. Mit der wohl berühmtesten Stelle aus der „Aesthetica in nuce“.

„Rede [angesprochen ist Gott; S. Sch.], daß ich Dich sehe! – – Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist; denn ein Tag sagts dem andern, und eine Nacht tuts kund der andern. Ihre Losung läuft über jedes Klima bis an der Welt Ende und in jeder Mundart hört man ihre Stimme. – – Die Schuld mag aber liegen, woran sie will, (außer oder in uns): wir haben an der Natur nichts als Turbatverse [durcheinander geworfene Verse; Anm. S. Sch.] und disiecti membra poetae [des zerstückten Poeten Glieder; gemeint ist Gott; Anm. S. Sch.] zu unserm Gebrauch übrig. Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen des Philosophen; sie nachzuahmen – oder noch kühner! – sie in Geschick zu bringen des Poeten bescheiden Teil.“3

Verstehen verstehen

Hamanns christliche Hermeneutik der Schöpfung markiert das eine, das religöse, erkenntnistheoretische wie existenzielle Extrem, das den epistemologischen Positionen des Rationalismus bzw. Positivismus und seiner wissenschaftlichen Objektivität ebenso entgegensteht wie dem radikalen Konstruktivismus mit seiner Reduktion der empirischen Wirklichkeit auf bloße Phänomene in der Nachfolge Immanuel Kants. Zwischen diesen Extremen wohl müsste sich das Nachdenken über Verstehen bewegen.

„Verstehen“ ist ein Erfolgswort. Wir gebrauchen es ständig und selbst-verständlich, egal ob wir uns selbst oder andere Menschen, die soziale Welt oder die Natur verstehen wollen. Selbstverständlich scheint mir, dass wir Verstehen heute nicht mehr wie der Magus in Norden vom Glauben an einen persönlichen Gott und seinen Logos aus verstehen können, vom christlichen Logos her als dem Universalkonzept für unseren Zugang zur Welt und zu uns selbst. Doch Konstruktivismus und Rationalismus, in welcher Schattierung auch immer, scheinen auch nicht wirklich Optionen zu sein.

Gibt es ein Konzept von Verstehen, das alle Lebensbereiche umschließt? Was können wir „verstehen“, können wir alles „verstehen“? Wen können wir „verstehen“, können wir alle „verstehen“? Wie würden wir die Voraussetzungen, Kriterien und Methoden des Verstehens, wie sein Gelingen beschreiben? Was sind Garanten des Scheiterns, wo liegen Grenzen des Verstehens? Und wie überhaupt merke ich, dass ich verstehe und dass ich verstanden werde? Ist, dass man verstanden wird, eine Sache des Denkens oder des Körpers, der 'Chemie': Man „fühlt“ und „glaubt“ sich ja eher verstanden, als dass man sich verstanden „weiß“. Und aus welchem Grund und zu welchem Zweck will man unverstanden und unverständlich bleiben?

Welche Erfahrung(en) unserer selbst, mit unserer Welt, den Anderen und mit unserer Sprache verstehen wir im Wort „verstehen“?

Susanne Schulte

Anmerkungen
1) Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Stuttgart/Göttingen 1958, 225.
2) Aesthetica in nuce, Hamann II, 206, 198. – Hamanns Schriften sind, wegen der besseren Lesbarkeit unter Anpassung der Orthografie an die heutige Schreibweise und unter Vernachlässigung der zahlreichen typografischen Auszeichnungen, zitiert nach: Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. 6 Bde. Hg. von Josef Nadler. Wien 1949–1957 (= Hamann I – VI).
3) Hamann II, 198f.



 

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